Der Meckerfritz

Ich wundere mich immer, dass die Konfirmanden im Gottesdienst neuerdings so andächtig sind.
Mit gesenktem Kopf sitzen sie ganz still während der Predigt. Früher hat uns manchmal der Pfarrer von der Kanzel herunter ausgeschimpft, weil wir laut geschwatzt oder uns gezeckelt haben. Wir durften auch nicht mehr auf der Empore sitzen, weil wir Papierflieger nach unten segeln ließen.
Als ich zu meinem Freund darüber sprach, sagte der: „Andächtig? Die spielen mit ihren Handys.
Der Pfarrer will künftig die Handys vor dem Gottesdienst einkassieren.“ - „Aber warum denn das? Sie stören doch nicht und sehen so schön andächtig aus. Oder hättest du eine Idee, wie Predigt und Gottesdienst so interessant sein könnten, dass sie freiwillig ihr Handy auslassen?“ - „Wo denkst du hin? Das geht nur mit Zwang. Ohne Zwang kämen die gar nicht.“ - „Wie hat das eigentlich Jesus geschafft, dass Leute mit ihm gegangen sind?“



Mein Freund ist Kirchvorsteher. Wir treffen uns oft in der Kirche und haben den gleichen Heimweg.
Ich sage: Hast du gesehen, dass die Blumen auf dem Altar verwelkt waren? Er sagt: Du hast egal was zu meckern, du bist ein richtiger Meckerfritz. Ich sage: Passt dir das nicht? Euch sind wohl in der Kirche die Leute lieb, die nichts merken, und die, die etwas merken und nichts sagen? Er sagt: Uns sind alle lieb. Ich sage: Aber manche etwas lieber.



Heute ging der Gottesdienst eine Viertelstunde später los. Ich fragte meinen Freund, warum. Er sagte: Der Pfarrer war noch nicht da. Ich fragte: Mussten wir denn da nach dem Läuten so lange andächtig rumsitzen und warten? - Wie meinst du das? - Na, konnte nicht der Kantor sein Orgelstück schon mal spielen und dann noch eins, oder mit uns ein paar Lieder singen oder einen Kanon einüben? Nein, sagte mein Freund, das brächte die Ordnung durcheinander. Als ich einmal zum Pfarrer sagte, es sei schon spät, lachte er: Ohne mich geht hier nichts los.



Neulich wurde im Gottesdienst ein Verstorbener abgekündigt. Seine Familie mit Kindern und Enkeln füllte drei Bankreihen. Die treuen Gottesdienstbesucher hatten den Gästen die besten Plätze überlasen, das fand ich anständig. Aber am nächsten Sonntag saßen sie wieder in den letzten Bankreihen, und die vorderen Reihen blieben leer. Das fand ich komisch. Aber woher sollten sie auch wissen, dass heute nicht so viele Gäste kommen?



Unser Gottesdienst beginnt immer in gleicher Weise. Die Glocken läuten, jeder hat seinen Platz gefunden. Ein schönes Orgelstück erklingt. Dann geht der Pfarrer nach vorn, singt die Begrüßung, wir antworten, und dann erklärt er uns den Namen und das Thema des Gottesdienstes. Das macht er wirklich schön. Und dann sagt er: Wir beginnen jetzt den Gottesdienst mit dem ersten Lied und singen die Strophen 1-3. Das muss ich mich wundern: Warum sollten wir zuerst das zweite Lied singen, und hatte der Gottesdienst nicht vor zehn Minuten begonnen? Das Lied hat nur drei Strophen, und wenn es 13 Strophen hätte, würden wir doch nicht weitersingen, wenn die Orgel schweigt. Naja, der Pfarrer sagt das eben so, da will ich mal nicht meckern.



Neulich hatte ich meinen Neffen mit in den Gottesdienst genommen. Ich sagte ihm: Das ist ungefähr so spannend wie Fußball. Hinterher sagte er: Das war aber langweilig. Ich ärgerte mich: Beim Fußball laufen sie auch bloß hin und her. So wie der Pfarrer. Er geht nach vorn und redet, er geht an den Altar und redet, er geht an das Lesepult und redet, er geht auf die Kanzel und redet. Er kommt wieder runter ans Lesepult und redet. Dann geht er an den Altar und redet, und zuletzt hebt er noch seine Arme zum Segen. Da ist immer was los. Der Neffe sagte: Wenn ich schon mal meine ehrliche Meinung sage, hast du gleich wieder was zu meckern.



Heute war Familiengottesdienst, er ging ein bisschen lang, zumindest für die kleinen Kinder. Die rutschten zuletzt ziemlich auf ihren Plätzen hin und her. Am Ende spielte der Kantor noch ein langes Nachspiel, die Eltern konnten ihre Kinder kaum noch ruhig halten, die wollten doch nun an die Luft und sich bewegen. Ich sagte zu meinem Freund: Muss der Kantor so ein langes Stück spielen, und alle müssen sitzen bleiben? Was hast du nun wieder zu meckern, sagte er. Vor einem Jahr hast du dich beschwert, dass die Leute beim Nachspiel schon aufstehen, schwatzen und rausgehen. Da haben wir beschlossen, dass alle sitzen bleiben müssen. - Aber könnte man es nicht an einem solchen Tag einmal weglassen? - Das geht nicht, es steht im Arbeitsvertrag des Kantors. - Wenn es im Vertrag steht, dann geht es wirklich nicht.



Heute brauche ich ein bisschen Trost, dachte ich auf dem Weg zur Kirche. Ich war gespannt auf die Predigt. Der Text war schwierig, aber unser Pfarrer erklärt alles so gut. Er interessiert sich nämlich genau wie ich für Geschichte. Er sprach von Assyrern und Babyloniern, von Nordreich und Südreich, vom ersten, zweiten und dritten Jesaja, von Babylon und Jerusalem, von Nebukadnezar und Kyros, dem Perserkönig. Meine Gedanken schweiften etwas ab. Ich dachte an Cäsar und Augustus, an die Römer und Germanen, an Hannibal vor den Toren Roms und an Spartakus. Plötzlich sagte der Pfarrer: Und wie das Volk Israel damals getröstet wurde, so tröstet uns Gott auch noch heute. - Zu dumm, jetzt hatte ich doch meinen Trost verpasst.



Gestern auf dem Heimweg nach der Kirche hat mir mein Freund einen Witz erzählt. Ein Ehemann war allein in die Kirche gegangen, seine Frau hatte inzwischen zu Hause das Essen gekocht. Neugierig fragte sie: Na, wie wars denn in der Kirche? Schön, antwortete der Mann. Was war denn los? - Der Pfarrer hat gepredigt. - Wovon hat er denn gesprochen? - Von der Sünde. - Und was hat er gesagt? - Er war dagegen. Was erzählst du zu Hause? fragte mein Freund. Ich weiß nicht, sagte ich, ich habe nicht mitbekommen, wofür und wogegen er war.



Heute hat der Pfarrer wieder schwer arbeiten müssen, sage ich zu meinem Freund. Er sah beim Verabschieden ganz erschöpft aus. Was war denn so schwer, fragt mein Freund. Na alles, Liturgie singen, Texte vorlesen, Predigen, die Gebete sprechen, das Abendmahl austeilen, die Ansagen machen... - Dafür ist er doch Pfarrer. - Könntet ihr ihm nicht ein bisschen helfen? Lesen, Beten, Brot und Wein austeilen? - Lass man, niemand kann das so gut wie der Pfarrer. Der hat das ja auch studiert. Und der hat ja auch den freien Montag zum Ausruhen, wenn wir wieder auf Arbeit müssen.



Beim Abendmahl steht eine Frau mit ihrem Kind neben mir, und was tut sie? Sie bricht ihre Hostie in zwei Stücke und gibt eins ihrem Kind. Ich frage sie hinterher: Was tust du da? Sie sagt: Der Pfarrer gibt ihm nichts, der meint, für Kinder genüge der Segen. Ich frage meinen Freund: Warum kriegen Kinder die Hostie nicht? Bei den Katholiken kriegen sie. Er sagt: Wir sind nicht katholisch. Wir Erwachsenen verstehen den Sinn des Abendmahls. Das Kind kapiert noch nichts. - Ich habe aber gehört, dass in der Nachbargemeinde die Kinder das Abendmahl bekommen. - Ja, wir hatten im Kirchenvorstand darüber zu entscheiden. Wir haben gesagt: Bei uns bleibt alles so, wie es immer war.



Heute musste ich meinem Freund beichten, dass ich beim Abendmahl nicht andächtig war. Mit kam plötzlich eine Anekdote vom letzten Sachsenkönig August in den Sinn. Der war mit seinen Kindern in einer Gaststätte. Die Gouvernante, die bei den Kindern auf gute Sitten achtete, hatte frei. Da sagte August zu seinen Kindern: „Heide därft'r ditschen.“ - Wie bist du denn darauf gekommen? - Weil welche die Hostie in den Wein eingetaucht haben, nachdem der Pfarrer gesagt hatte: „Nehmt und trinkt!“ - Das soll eigentlich auch nicht sein, sagte der Bischof. - Aber weil der Bischof weit weg ist in Dresden, kann der Pfarrer sagen: „Heide därft'r ditschen.“



Wenn ich unterwegs bin und Zeit habe, gehe ich gern in eine Kirche. Jede ist anders schön, jede ist besonders, immer gibt es was zu entdecken. Leider sind die Türen meist zu. Das ärgert mich. Wenn ich unser Familiengrab versorgt habe und mich noch ein paar Minuten in die Kirche setzen will – meine Kirche ist geschlossen. Mein Freund sagt: Das muss sein, weil sonst bei Diebstahl und Vandalismus die Versicherung nicht zahlt. - Passiert denn so viel? Die Kirche im Nachbardorf ist doch auch meist offen. - Aber dort ist vor zehn Jahren eingebrochen worden, nachts, ein Fenster eingeschlagen und eine Innentür aufgebrochen. Die Diebe haben die Kollektenbüchse mitgenommen und ungefähr zehn Euro erbeutet. - Und hat die Versicherung gezahlt? - Die Schäden nicht, aber das Gestohlene hat sie erstattet. - Vermutlich lassen sie deshalb jetzt die Türen offen.


Auch in nächster Zeit wird der Meckerfritz noch manches zu meckern haben.
Schauen Sie wieder rein!